Die Achtsamkeit zu Fuss entdeckt
von Romina Parejo
Da liegen sie, meine zwei Pilgerpässe – übersät mit unzähligen bunten Stempeln und krakeligen Notizen. Hier auf dem Bürotisch erscheinen sie zwischen den ganzen Projektstapeln, Ladekabeln und neonfarbenen Post-Its wie zwei Relikte aus einer anderen Zeit. Es kommt mir vor wie eine kleine Ewigkeit, wenn ich an meine zwei Pilgerreisen auf dem spanischen Jakobsweg zurückdenke. Vor drei Jahren habe ich mich das erste Mal auf den Camino del Norte begeben, einer der ältesten Jakobswege entlang der Nordküste Spaniens. Kein Jahr später habe ich mich an den Hauptweg getraut, den Camino de Santiago, der mitten durch Spanien führt. Und jetzt, vier Jahre später, ist mir manchmal schon der Weg zum sonntäglichen Brötchen holen zu weit.
Achtsamkeit, unser Thema für die neue Magazinausgabe. Dafür hatten wir uns einstimmig im Redaktionsteam entschieden. Jeder soll seine persönlichen Gedanken, Erfahrungen, Inspirationen oder Überzeugungen zum Thema Achtsamkeit einbringen. Nach etlichen Gedankenschleifen, vergeblichen philosophischen Ansätzen und viel Grübeln über Achtsamkeit, Alltäglichkeit, Fokussiertheit – Frustration! Achtsamkeit – wann, wo und wie hat mich Achtsamkeit bisher am meisten berührt? Da fielen sie mir wieder ein, die unbeschreiblichen Momente auf dem Jakobsweg in Spanien, die mir rückblickend noch beeindruckender erscheinen. Als ich meine zerschlissenen Pilgerpässe auffalte und die zahlreichen Stempel betrachte, kommen mir die Erinnerungen wieder: Der erste Blick auf den unerschütterlichen Nordatlantik, während der Sonnenaufgang alles in sein magisches Licht taucht und der salzige Nordwind die Wellen in die Brandung peitscht. Aber der Reihe nach, wie kommt Frau eigentlich dazu, mit Mitte Zwanzig Pilgern zu gehen und was hat Achtsamkeit mit offenen Blasen am Fuß zu tun?
An einem unscheinbaren Freitagabend in geselliger Runde fiel mein Entschluss, den Jakobsweg zu gehen. An jenem Abend konnte ich mich kaum von den Lippen einer wunderbaren Spanierin lösen, die mit leuchtenden Augen von ihren Erlebnissen auf dem Jakobsweg erzählte. Jedes Jahr zur Frühjahrszeit verspüre sie immer den gleichen Drang, wieder Pilgern zu gehen. Meiner von Natur aus großen Klappe hatte ich es dann zu verdanken, dass ich mich einen Monat später erst im Wanderfachgeschäft, danach auf diversen Wandertrainingspfaden und letztlich im Flieger nach Santander wiederfand.
In den ersten Tage auf dem Camino war ich ununterbrochen am Fluchen: unerträgliches Regenwetter, nie Handyempfang, unbeheizte Herbergen, schnarchende Italiener, drückende Rucksackriemen, irreführende Wegweiser, Blasen an den Füßen. Und dann diese Lauferei. Argh. Durchschnittlich 22 km pro Tag und bitte so schnell wie möglich. Denn wer zu spät ankommt, muss mit einer vollen Herberge rechnen und damit, unter freiem Himmel zu schlafen – als ob mir der Rücken nicht schon genug schmerzen würde! Warum habe ich mir das eigentlich angetan?
Am dritten Morgen ist es dann passiert. Ich wurde das erste Mal in meinem Leben nur von den ersten Strahlen des Sonnenaufgangs und einem so intensiven wie wunderschönen Vogelgesang geweckt. Wir hatten uns am Abend zuvor die wohl abgeschiedenste Herberge auf dem gesamten Nordweg ausgesucht und während ich noch fluchend und mit dem Gedanken, vorzeitig heimzufliegen, zu Bett ging, war ich jetzt das erste Mal so still und ehrfürchtig wie selten zuvor. Ich wickelte mir meinen Schlafsack um die Schultern und schritt hinaus in den kühlen Hinterhof der verträumten Herberge. Der Vogelgesang war hier durch den Hall der alten Hofmauern noch lebendiger und die Sonnenstrahlen reflektierten sich im Morgentau, der die ersten grünen Triebe ummantelte. Ein Moment, der so voller Frieden und Schönheit war, dass ich für einen kurzen Augenblick alles um mich herum vergaß. Von da an hatte irgendetwas das lebhafte Großraumbüro in meinem Zwischenhirn außer Gefecht gesetzt.
Mit jedem Schritt auf dem Camino entleerte sich mein Kopf zunehmend. Ich erinnere mich noch an den einen regenreichen Marsch, an dem ich ruckartig stehen blieb und mich bückte, um eine Weinbergschnecke vom Weg aufzusammeln und sie wieder behutsam in das grüne Gras auf der anderen Seite zu setzen. Und auf der Route nach Santillana del Mar fiel mein Blick bei einer kurzen Rast auf einen markanten, abgebrochenen Ast, aus dem ich dann meinem Wanderstab schnitzte. Nach über einer Woche auf dem Camino sind die Sinne fast schon hypersensibilisiert. Ich hörte jeden knirschenden Stein unter meinen Schuhen, hörte den Wind, wie er über die langen Gräser am Wegesrand strich und noch heute erinnere ich mich ganz genau an den intensiven Geruch des Kiefernwaldes und das unbeschreiblich schöne Gefühl, vierbeinigen Weggefährten durch das weiche Fell zu wuscheln.
Der Begriff Dankbarkeit bekam für mich eine ganz neue Bedeutung. Ich war dankbar für die banalsten Dinge: Das war ein rettendes Stück Tortilla zwischen etwas trockenem Baguette oder ein freundlicher Mitpilgerer, der mir sein letztes Blasenpflaster opferte. Selbst die Doppelfunktion meiner Alutrinkflasche als wärmende Bettflasche in kalten Herbergen wurde für mich unbezahlbar. Und dann gab es die ganz große Bedeutung von Dankbarkeit. Das waren Momente wie der Blick vom Playa del Silencio, der so atemberaubend schön war, dass man eine tiefe Dankbarkeit für all das verspürte, was man in diesem Leben geschenkt bekommen hat: zwei gesunde Füße, eine wunderbare Familie, eine Wohnung mit einem Bett und einem Kühlschrank, eine Arbeit und ein monatliches Einkommen. Dankbar für die Fähigkeit, das Leben mit allen Sinnen sehen, schmecken, riechen und hören zu können. Das Leben schien mir auf einmal wieder ganz einfach zu sein. Wenn der penetrante Quälgeist im obersten Stockwerk unseres Kopfes einmal Pause macht, nicht ständig mit Analysen, Vergleichen und Werturteilen beschäftigt ist, wird das Leben wieder leicht. Genau wie mein sieben Kilogramm schwerer Rucksack, den ich die ersten Tage noch ächzend mit mir herumschleppte. Nach der ersten Woche spürt man dieses Gewicht einfach nicht mehr. Man achtet nicht mehr darauf. Der Fokus hat sich verschoben und die Achtsamkeit liegt auf anderen Dingen. Es ist, als würde man den gesenkten Blick, der sich soviel um einen selbst gedreht hat, auf einmal heben. Weg von den vermeintlichen Sorgen und Problemen. Hin zu den Begegnungen, die das Leben wirklich lebenswert machen: die Begegnungen mit Menschen. Denn auf dem Camino trifft man auf wunderbare Persönlichkeiten, lauscht unglaublichen Geschichten und findet durch jeden Austausch mit anderen auch immer mehr ein Stückchen zu sich selbst.
Ich erinnere mich noch an die kirchliche Pilgerherberge in San Vicente de la Barquera. Es war deutlich zu sehen, dass an allen Ecken Geld fehlte und immer nur das Notdürftigste repariert werden konnte. Die gesamte Einrichtung war bunt zusammengewürfelt und auch zum Heizen fehlten die finanziellen Mittel. Und dennoch strahlte diese Herberge eine ergreifende Wärme und Behaglichkeit aus. Die gesamte Wand des in die Jahre gekommenen Eingangsbereiches war liebevoll mit Bildern und Nachrichten aller je dagewesenen Pilgergäste beklebt. Lachende Gesichter, freundschaftliche Umarmungen, glückliche Momente, ein Gefühl von Vertrautheit. Die Seele der Herberge war der Herbergsvater und seine Frau – selten habe ich so herzliche und selbstlose Menschen getroffen. Die finanzielle Unterstützung der spanischen Kirche reiche immer nur für die Verpflegung der Pilgergäste und die eigene Grundversorgung, erzählte er uns beim Abendessen. Aber das ist alles, was sie brauchen, denn es geht ihnen um die Menschen, die sich auf den Weg machen, zu Gott oder zu sich selbst. Sie sind nur der Hafen, in dem die Pilgerer einlaufen können und der Rückenwind, den sie zum Weitersegeln brauchen.
Auch wenn man nach einer gewissen Zeit auf dem Jakobsweg fast schon einer gedanklichen Stille lauschen kann, diese Worte des Herbergsvaters hallten lange in mir nach. Auf dem Camino entdeckt man die Menschlichkeit auf viele Weisen wieder und schließlich erlebt man das Menschsein wieder als die Verbundenheit, die es überhaupt zum Menschsein macht.
Jeweils gegen Ende meiner beiden Pilgerreisen kam ich immer in einer Haltung kompletter Gegenwärtigkeit an. Mein Verstand konnte ich für pragmatische Überlegungen ein- und danach wieder ausschalten. So hatte ich viel Platz für all die Eindrücke, Gespräche und Momente die mich umgaben. Ich konnte wieder zuhören, ohne gleichzeitig schon gedanklich eine Antwort zu formulieren. Ich beobachtete Menschen nicht nur, sondern ich erkannte auch wieder, ob sie liebevoll miteinander umgehen oder gerade im Streit sind. Ich hatte das Gefühl, fast schon spüren zu können, wie die Sonnenstrahlen einzelne Sommersprossen auf die Nasenspitze zauberten.
Doch das Eindrucksvollste, was ich auf dem Camino gefunden habe, fand wiederum mich auf dem Pass der Steinmännchen zwischen Navarrette und Nájera. Bei einem steileren Aufstieg fiel mir ein fingerhutgroßes Plastikteilchen zwischen zwei Steinen auf. Bei näherer Betrachtung des pinken Etwas entpuppte es sich als winzig kleines Plastikfläschchen, verschlossen mit einem noch winzigeren Korken. Im Innern diese Miniatur-Flasche befand sind ein kleiner beschriebener Zettel auf dem stand: „Amar no es solamente querer, es sobre todo comprender.“ Was grob übersetzt soviel heißt wie „Lieben ist nicht nur Mögen, sondern vor allem Verstehen“.
Seit kurzem werden die Tage wieder länger, die ersten Kirschblüten verzaubern mit ihrem Duft die Luft und quirliges Vogelgezwitscher unterbricht die erdrückende Stille des langen Winters. Es ist die Zeit, in der es mich seitdem gedanklich immer wieder auf den Camino zieht. Weit weg von all dem Gedankenlärm, der Hektik, dem Stress und den vielen gesenkten Blicken. Dorthin, wo der Blick sich wieder hebt und die Sinne lebendig werden. Dorthin, wo man die Achtsamkeit zu Fuß entdeckt.
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