Eine Liebeserklärung an das Studieren
von Marie Thomas

So reizend als es mir war, so eindimensional wird es in der Erzählung werden.
– sehr frei nach Johann Wolfgang von Goethe
Mainz ist die rote Stadt. Das rote Wappen, der rote FSV Mainz 05, Ebling, der rote Oberbürgermeister.
Für mich aber ist eine Sache von besonderem Gewicht – die roten Lettern der Johannes Gutenberg-Universität, welche gerade jetzt, in den Endzügen meines Studiums, noch einmal zu meinem zweiten Wohnzimmer wird. Niedrig waren die Erwartungen zu Anfang, an die Stadt und auch an das Studentenleben. Mittlerweile kann ich mit Gewissheit sagen, eine bessere Entscheidung, als an die Universität zu gehen, habe ich selten getroffen.
Das soll nicht heißen, dass es keinen anderen, möglicherweise sogar besseren Weg als den Weg zu studieren gibt. Ich kann schließlich nur von meiner ganz eigenen Lebenswelt erzählen. Das soll auch nicht heißen, dass es immer einfach war zu studieren. Nicht wegen der tatsächlichen Inhalte, des Lernens und der Klausuren. Man muss erst lernen, mit einer scheinbaren Ziellosigkeit umzugehen, denn man ist nach einem Studium nicht mehr, als man davor war, wenn man nichts dafür tut. Es geht für den Einzelnen – so zumindest meine Erfahrung – aber auch viel mehr um all das, was drum herum passiert. Mein Studium bedeutet mir viel, so viel mehr, als Bänke drücken und Seminararbeiten schreiben. Es bedeutet, den eigenen Horizont zu erweitern, Freunde zu finden, in der Mensa zu essen, Nächte zu durchzechen, Tage zu durchschlafen, jung zu sein, frei zu sein, zu leben. Es bedeutet für mich auch, erwachsen zu werden, bewusst zu werden, mir selbst und meiner Umwelt. Es bedeutet, empathisch zu sein, offen zu sein, achtsam zu sein. Und allem voran bedeutet es, leben zu lernen.
If you do something with your whole heart and it’s a mistake, you can live with that.
– Florence Welch
Schwer war es nie wirklich, der Heimat Heidelberg den Rücken zu kehren. Hat man einmal alles gesehen, fällt einem dort, wo jeder jeden kennt, irgendwann nicht nur das Dach, sondern der ganze Himmel auf den Kopf. Dann braucht es ein neues Abenteuer, neue Gesichter, einen Ort, dem ich vielleicht auch eines Tages den Rücken kehren werde und ihn dabei Heimat nenne.
Warum das für mich ausgerechnet Mainz wurde, weiß ich gar nicht mehr genau. Aus einem pubertären Geist heraus lange die elterlichen Worte geleugnet, dass Schreiben meine Leidenschaft sei – und damit wohl auch eine der wenigen Sachen, die mir in Ermangelung jeglichen Ehrgeizes leicht von der Hand gehen – bin ich mit einigen Zweifeln schließlich aber doch in meinem Literaturwissenschaftsstudium gelandet. Und zumindest gerade jetzt gibt es wenig, in dem ich mehr aufgehe.
Ich habe also angefangen, in der schönsten Stadt an den Ufern des Rheins zu studieren. Zunächst noch recht wahllos, nach einem Fachwechsel aber immer zielstrebiger.

Es mag sein, dass ich noch nicht so viele Lebensjahre zähle, um einige als besonders prägend ausmachen zu können. Nichtsdestotrotz haben mich die letzten Jahre verändert, mehr noch könnte ich sagen, ich habe mich beinahe um 180° gedreht.
„So I guess we are who we are for a lot of reasons. And maybe we’ll never know most of them. But even if we don’t have the power to choose where we come from, we can still choose where we go from there. We can still do things. And we can try to feel okay about them.“
– The Perks of being a Wallflower – Stephen Chbosky
Ein Studium wird leicht unterschätzt. In einer Generation, die so viele Möglichkeiten wie die meine hat, etwa Tausende Kilometer fern von daheim im Ausland zu leben, wirkt die Entscheidung, seine Nase weitere drei, vielleicht sogar fünf Jahre in Büchern zu vergraben, beinahe feige. Späße wie solche, dass ‚wir Geisteswissenschaftler‘ am Ende ja doch nur unseren Fahrgästen im Taxi von Goethe und Adorno erzählen, halten sich schließlich standhaft. Es scheint fast so, als könne man die Nutzlosigkeit eines Studiums in Zeiten wie diesen kaum genug betonen. Ich persönlich finde, es gibt durchaus schlimmere Gedanken als den, ein Taxi zu fahren, einen Bus oder einen Zug. Und zumindest kann ich mir so sicher sein, dass ich wenigstens die letzten drei Jahre nicht besser hätte investieren können.
Wenn mich jemand bei meinem Abitur gefragt hätte, was ich irgendwann tun möchte, hätte ich wohl mit den Schultern gezuckt. Hätte mich damals jemand gefragt, wer ich bin, hätte ich ihm wohl verzweifelt ins Gesicht geschrien: „Ich weiß es nicht!“ Auch nach drei Jahren habe ich noch keine Antwort auf die erste Frage, bestenfalls höchstens die, dass es darauf nie eine endgültige Antwort geben wird. Viel wichtiger aber ist, dass ich der deutlich schwereren zweiten Antwort erheblich näher gekommen bin.
Das mag pathetisch klingen, hochgestochen, übertrieben. Aber es ist die Wahrheit. Es sind weniger die Dinge, die ich in der Universität tatsächlich gemacht und gelernt habe, als die, zu denen mich mein Weg geführt hat. Das ist eine sehr viel zwischenmenschlichere Ebene, denn mein Weg und mein Studium führten mich zu meinen Freunden und eben diese führten mich zu Büchern, Filmen, Musik, Ideen, Gedanken, Meinungen.
Und eben deshalb, und das ist sehr schwer zu verschriftlichen, hat mein Studium mich gelehrt, abenteuerlustig zu sein, unternehmenshungrig, weltoffen. Die vergangenen Jahre haben mich politisch gemacht, sie haben mich zur Vegetarierin gemacht und sie haben mich zur Feministin gemacht. Die Universität hat mir beigebracht zu widersprechen, zu diskutieren und zu kompromittieren. In meinem ersten Uni-Semester las uns ein Dozent aus David Foster Wallaces Rede „This is Water“ vor. Damals habe ich dem zwar gebannt gelauscht, konnte aber mit dem Inhalt nur vage etwas anfangen. Heute kann ich es.
That is real freedom. That is being educated, and understanding how to think. The alternative is unconsciousness, the default setting, the rat race, the constant gnawing sense of having had, and lost, some infinite thing.
– David Foster Wallace – This is Water
Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, was ich nun geworden bin, denn gerade jetzt stehe ich nur knietief in Möglichkeiten, die eine Entscheidung nicht begünstigen, sondern unmöglich machen – manch einer wird es das Dilemma eben dessen nennen, was ich hier zu beschreiben versucht habe.
Hier, irgendwo im Nirgendwo des Erwachsenenlebens stehe ich nun also, aber wenn so mein Nirgendwo aussieht, dann will ich bleiben. Zumindest noch einen kleinen Moment. Und was danach kommen wird … wer weiß das schon.
Am Ende geht es ohnehin darum, einen Weg gefunden zu haben, der für mich funktioniert. Sei das ein Studium, sei es eine lange Reise, sei es eine Ausbildung oder sei es gar alles auf einmal – ich habe rausgefunden, es gibt diesen Weg. Zumindest so weit, wie ich ihn bis jetzt gelaufen bin. Alles andere bleibt wohl offen. Aber ich denke, und dessen bin ich mir sehr sicher, wir sollten weniger in Lebensläufen denken, in brotlosen Künsten, Lücken und Erfolg. Vielleicht bereue ich es irgendwann, in zwei, zehn, vielleicht zwanzig Jahren, aber für mich war ein aufregendes Leben immer schon der verlockendere Gedanke, verglichen mit einem sicheren, einem materiell gesicherten Leben. Denn am Ende sollten wir die kurze Zeit, die uns auf diesem grünen Planeten vergönnt ist, doch viel mehr auskosten, als wir es tun, statt sie in Abschlüssen zu messen oder in Berufen und an Orten zu verschwenden, die uns nicht glücklich machen.
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