Ich kenn’ mich doch. Ich mach’s eh nicht.

von Philipp Dorendorf

© Philipp Dorendorf

Ich so zu Helge: Ich mag euer Magazin. Darf ich einen Gastbeitrag schreiben?

Aber gedacht habe ich Folgendes: Die Texte in HERZWERT sind mir eigentlich zu lang. Ich lese so lange Texte eh nicht bis zum Ende. Ich kenn’ mich doch. Ich lese auch Briefings nicht. Ich atme sie ein, das geht auch. Aber das ist ’n anderes Thema. Klingt wie Kritik. Ist aber keine. Ich schreibe selbst so wahnsinnig gerne und gerne viel und lang. Ich gehe auch gar nicht davon aus, dass das einer liest, was ich schreibe. Einatmen ist völlig okay. Ich mag es einfach, wenn sich ein Magazin wie HERZWERT über die Stakkato-Leseeigenschaften der Menschen hinwegsetzt. Das find ich toll und mutig. Vielleicht also war meine Frage an Helge, einen Gastbeitrag schreiben zu wollen, eine Art Charmeoffensive. Mag sein. Einfach aus Begeisterung, was weiß ich. Was mich dennoch veranlasst hat, es auszusprechen, waren zwei Dinge:

1) Ich bin einfach überhaupt kein neidischer Mensch. Stimmt wirklich. Ich kann allen alles gönnen; ich bin nicht auf Menschen neidisch, die dicke SUVs fahren oder avantgardistische Architekturmonster-Villen besitzen, die auf dezeen.com gepostet werden. Nein. Ich nicht. Ich fahre MINI und lebe in Köln-Ehrenfeld. Mir egal. Alles fein. Was ich allerdings echt scharf finde, rattenscharf: Die haben einfach mal dieses Magazin herausgegeben. Allein das ist schon Grund zum neidisch werden. Und wenn ich selbst schon kein Magazin mit echter Redaktion habe, dann will ich wenigstens dafür mal als Gastautor etwas schreiben.

2) Er würde eh Nein sagen, denn weder gehöre ich zur HERZWERT Redaktion noch ins nähere Umfeld von pro event, also: keine Gefahr. Nicht mal als Pitch-Gegner sind wir uns je begegnet. Möchte ich auch nicht. Oder doch? Vielleicht doch! Und dann mit Helge einen darauftrinken. Egal wer gewinnt.

Helges Antwort: „Es wäre mir eine Ehre!“
Ich: „Neiiiin! Es ist MIR eine Ehre!“

Und dann zu mir selbst: Ja, cool! Mir fällt schon was ein, obwohl ich lange nichts mehr geschrieben hab. Egal, wird schon gehen. Helge mochte meinen Kreation-Text, so was in der Art mach’ ich einfach noch mal.

Dann Helge: „Das Thema ist übrigens HEIDELBERG.“

Ich so zu mir selbst: Waaaaas??? Katastrophe. Wie komme ich denn aus der Nummer wieder raus?

Natürlich gar nicht. Im Ernst jetzt: Wie soll ich denn etwas über Heidelberg schreiben? Ich bin aus Hamburg. Was stimmt, ist dies: Für uns ist alles unterhalb der Stadtgrenze … keine Ahnung, Toskana, Bayern, Österreich, Phantasialand, so was in der Art. Ich lebe jetzt in Köln und seit über 20 Jahren im Rheinland (also Düsseldorf). Aber fragt mich bloß nicht nach dem Namen des Bürgermeisters von Köln oder Düsseldorf. Oder welche Partei uns hier regiert. Ich gehe wählen, aber jedes Mal suche ich den Namen Ole von Beust oder Olaf Scholz auf dem Wahlzettel. Oder Helmut Schmidt. Hamburger Bürgerschaft. Ich sollte mich mal kundig machen. Aber ich mach’s eh nicht. Ich kenn’ mich doch.

 

© Philipp Dorendorf

Und jetzt Heidelberg? Was soll ich bloß schreiben? Wie man als Ur-Nord und Wahl-Westdeutscher die Stadt (… ist ne Stadt, oder?) sieht?

Gääähn.
Nein.
Mach’ ich nicht.
Ich kenn’ mich doch.

Das klänge nämlich so:
Ich bin mal durch Heidelberg durchgefahren.
Wirklich wahr.

Geschichte: Ende.

An alle die Long Copy Hater an dieser Stelle: Good bye for now. Ihr habt super durchgehalten. Ich habe bis hierher 5-mal Heidelberg gesagt. Ergo: Das muss ein Heidelberg-Blogbeitrag sein.

Allen anderen:
Willkommen im nächsten Level.
Gemeinsam stellen wir uns diese Frage:

Warum tun wir es eigentlich nicht einfach?

Und dann hat es mich eben doch interessiert, was da los ist. Ich bin auf ein paar Blogbeiträge gestoßen, die – und das ist jetzt wirklich lustig – total alt sind: So circa bis zu ein paar Jahren.

Hä?
Ach so.

Kommt nicht viel Neues dazu.
Macht Sinn. Ist ja nicht schlimm. Im Gegenteil. Sympathisch sogar.
Irgendwie heilsam. Kann das sein?
Ich kann es auch nicht leiden und nicht mehr hören, dass alle Berlin oder Köln sein wollen. Oder Hamburg. Und klar, da kommt ein Blogger mit dem Schreiben gar nicht nach, so viel wie da los ist:

Leser: „Yeah, Digga, hast du gesehen? Neuer Laden? Illegal und so?“
Antwort: „Du bist sooo gestern Abend … Kenn’ ich schon. DJ kann nix!“

Nicht so Heidelberg: Da scheint eine andere Taktung zu herrschen. Wie angenehm unaufgeregt. Slow Motion. Slow Food. Slow Heidelberg. Was ich hier sage, wird so nicht stimmen. Nein. So ist es nicht. Aber der Name ist ein klein wenig zu elegant, um eine High-Speed-City zu sein. Ich wette, die Heidelberger empfinden sich selbst von edlem Geschlecht. Also, ich würde es tun. Heidelberg ist eben nicht Köln-Ehrenfeld und nicht Berlin-Neukölln. Lucky you. Gott, ich weiß auch, dass Heidelberg 150.000 Einwohner hat. Und dass Mannheim die Nachbarstadt ist. Grusel. Ob das die Heidelberger so richtig gut finden …? Bestimmt nicht.

Was die Blogs angeht: Ich war entzückt.
Von den Blogs.
Von Heidelberg.
Total toll.
Wirklich wahr.

Ein Bespiel: Heidelberg-Guide auf www.magnoliaelectric.net. Als ich das gelesen habe und die wirklich schönen Fotos im Instagram-Style anschaute, habe ich Appetit bekommen auf die kleinen, wunderschönen Läden, die Cafés, die so aussehen, als würden sie allein für Pinterest gestaltet worden sein. Und mehr: Neckarwiese mit Sonne, Urban Kitchen in der Poststraße, L’Epicerie. Und was ist Plöck? Das ist wie der Vintage-Entwurf eines Filmkulissenbaus. Großartig. Und dass diese Bloggerin gar nicht aus Heidelberg ist, sondern aus Wien, rundet meine Sympathie für Heidelberg gänzlich ab.

Barcelona, Amsterdam, Paris, Prag, Stockholm, Riga. Wie oft liege ich meiner Freundin in den Ohren: Das kostet ja im Grunde fast nichts. Ticket buchen. Hinfliegen. AirBnB-Wohnung und zack: Ein Citytrip-Erlebnis mehr. Coole Städte. Ich liebe Städte. Klar war ich da. Also fast. So gut wie. Nicht in allen. Mach’ ich aber noch. Ich kenn’ mich doch.

Und dann fahre ich durch Heidelberg (bin ich ja wirklich, siehe oben) und ich denke: Hier muss ich mal her. Mit Zeit. Ich lese die Blogs und denke: Wundervoll. Wie weit ist es von Köln nach Heidelberg? 250 km. 2 Std. 23 Min.?!
Ganz im Ernst?
Freundin einpacken. Auto starten.

Ich mache es eh nicht. Ich kenne mich doch.
Nur warum?

Die Dinge, die ich mir in meinem Leben schon vorgenommen habe, überwiegen deutlich gegenüber den wahrhaft umgesetzten. Warum nur?
Warum nicht umgekehrt?

Kennst du das? Eine geniale Geschäftsidee.

Von mir aus klischeehaft in der Kneipe unter Promille-Support auf den Bierdeckel gekotzt. Fest vorgenommen. Nächster Tag: Du machst es eh nicht. Du kennst dich doch.

Wie die App, die ich unbedingt entwickeln wollte. Gemacht für Vororte oder Dörfer ohne Kiosk- oder Tankstellen-Anschluss. Das Szenario: Es istAbend. Süßigkeiten-Heißhunger. Die App lokalisiert, welcher Nachbar einen Vorrat freigegeben hat. Man bestellt. Der Nachbar legt die Milka vor die Tür. Abholen. Befriedigt sein. Das Süßwarenausgleichs-Prinzip. Ich hab’s natürlich nicht gemacht. Ich kenne mich doch. Warum nicht? Ganz einfach: Ich lebe in der Stadt. Was geht mich das Süßigkeiten-Defizit eines Bauern an? Ego, ich weiß. Blöd. Und das, wo ich doch so gerne auf dem Land bin.

Als ich mit Helge einen Termin zum Besuch in Heidelberg vereinbart habe, wusste ich schon: Ich mach’s nicht. Nicht aus Lethargie oder so. Ich habe es wirklich vor, wie so vieles. Aber ich kenne mich doch. Irgendwas ist immer. Aber vielleicht diesmal. Vielleicht ist diesmal Heidelberg das „irgendwas“, das „immer ist“.

Ich habe einen Verdacht: Begeisterungsfähigkeit. Ich mag diese Eigenschaft enorm. An mir und an anderen. Nicht Red Bull ist es. Allein BEGEISTERUNGSFÄHIGKEIT verleiht Flügel. Wir können alles und zu jeder Zeit. Wegfliegen. Wegfahren. Apps erfinden. Job kündigen, um Blogger zu werden. Marathon laufen. Mit dem Rauchen aufhören oder anfangen. Wählen gehen. Kräuter pflanzen. Keller aufräumen. Einen Text zu Ende lesen. Babys machen. Meinetwegen Yoga. Dinge vornehmen.

Energie durch Begeisterung. Das Erlebnis des Träumers.

So, mein kleines Heidelberg …
Was mache ich denn jetzt mit dir?
Hinfahren?
Nicht hinfahren?

Wir sehen uns.
Mehr kann ich grade nicht anbieten.
Ich kenn’ mich doch.

Aber dich kenne ich nicht.
Noch nicht.

Philipp Dorendorf

www.neopdo.com

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