Warnung: Applaus tötet!
von Helge Thomas
Es war Ende Februar. Ich war mit meiner Tochter auf einem Konzert von Art Garfunkel. Für die Jüngeren: Das ist der Mann, der uns mit Paul Simon als legendärerdem Duo aber auch als Solokünstler so unzählige wunderschöne Lieder geschenkt hat. Googelt ihn einfach mal. Meine Tochter und ich lieben ihn auf jeden Fall sehr, den Zauberer der leisen Töne. So fuhren wir also voll aufgeregter Vorfreude an diesem Abend nach Offenbach ins Capitol. Und wir wurden nicht enttäuscht.
Nachdem er seine Stimme vor einigen Jahren fast verloren hätte, erklang sie an diesem magischen Abend noch einmal in all ihrer vollkommenen Schönheit. So bekannt die vielen Melodien, so berührend jedes Wort. Doch als der letzte Ton verklungen war und die Stille uns fast zärtlich in den Armen hielt… KLATSCHEN. So hart und laut und kalt, wie ich es noch nie erlebt hatte. Es war, als würde man tausend Steine in eine Porzellanfabrik werfen, als würde ein Hubschrauber direkt durch die Kirche fliegen, genau in dem Moment, als sie JA sagen wollte, es war… ich kann es nicht beschreiben. Ich wurde einfach so unfassbar brutal aus dieser wunderbaren Atmosphäre gerissen und saß nun wieder im kalten Licht des Saales. Allein. Umringt von völlig irre klatschenden Menschen.
Es gibt keine Zufälle
Ein paar Tage später traf ich mich mit meinem lieben Freund Oliver Wendelin Wronka und erzählte ihm diese Geschichte. Oliver ist selbst Schauspieler und Regisseur und er nickte verstehend. Dann erzählte er mir, dass er sich erst kürzlich mit genau diesem Thema beschäftigt habe. Warum klatschen wir eigentlich? Wann wurde dieses hässliche und laute Geräusch aufeinander schlagender Hände zur scheinbar einzig möglichen Reaktion auf etwas, das uns gefällt? Oliver hat bei seinen Recherchen folgende Erkenntnis gewonnen.
Das Klatschen mit den Händen dient seit Urzeiten der Vertreibung von etwas Bedrohlichem. Ein gefährliches Tier, das sich uns nähert oder auch eine eher harmlose Krähe im Rübenfeld. Wir klatschen laut in die Hände und rufen „Weg da! Hau ab!“. Funktioniert ja auch meistens.
Die bösen Geister des Winters
Ganz besonders laut aber werden wir Menschen, wenn die „bösen Tiere“ nur imaginär sind. Wenn wir sie nicht sehen können, aber wissen, dass sie da sind. Ja, ich rede von Geistern. Bösen Geistern. Wer kennt sie nicht, die lauten Ratschen und das Trampeln, Schreien und Klatschen der Hexen in der traditionellen Fastnacht. Ob beim berühmten „Narrensprung“ in Rottweil oder dem „Morgestraich“ in Basel. Menschen verkleiden sich und machen Lärm, um die bösen Geister des Winters zu vertreiben.
Gut, klar soweit. Aber was hat das jetzt genau mit dem Klatschen im Theater zu tun? Das sind doch weder gefährliche Tiere noch böse Geister. Oh, weit gefehlt. Das Theater hat solcherlei „Bedrohung“ zwar nicht erfunden, aber es holt sie auf die Bühne. Theater lässt uns Figuren und Geschichten erleben, die wir sonst vielleicht nie zu Gesicht bkommen hätten. Oder kanntet Ihr Mephisto persönlich? Don Giovanni? Die schöne Helena? Romeo? Julia? … Nein? dacht ich mir! Das alles sind erfundene „Geister“.
Die Geister in unserem Kopf
„Frauen sind dahin geschmolzen und Götter wurden erschaffen. Damit kann man schon mal einen Abend verbringen…“ wusste Robin Williams aka John Keating über die Kraft der Poesie im „Club der toten Dichter“ zu berichten. Anders ausgedrückt: Theater begeistert uns im wahrsten Sinne des Wortes. Doch nicht auf der Bühne passiert das Wesentliche. Die Geister entstehen in unserem Kopf. Wir selbst verbinden das Gesehene und Gehörte mit unserer Fantasie und unseren Gefühlen. Daraus entsteht – je nach Typus – eine BeGEISTERung, die fast drogenähnlich wirken kann. Das Spiel der Geister mit unserem Geist ist das, was uns am Theater begeistert.
Die Geister, die ich sah
Womit die Frage immer noch nicht beantwortet ist, warum wir klatschen, wenn der Vorhang fällt. Nun, am Ende eines Theaterbesuches versuchen wir, trotz aller Begeisterung, wieder sicher in unsere reale vertraute Welt zurück zu gelangen. Also vertreiben wir die Geister des Theaters durch Klatschen und lautes Rufen oder Pfeifen. Der vermeintliche Irrtum: Wir zeigen damit also gar nicht den Schauspielern unsere Anerkennung sondern verscheuchen lediglich Geister aus unseren eigenen Köpfen.
Sind denn alle Geister böse? Mitnichten. Gerade im Theater gibt es viele gute Geister und ab und an gelingt ihnen ja sogar ein Happy End. Also im Rahmen des Stückes. Dennoch sind es Geister. Und die sind den meisten Menschen einfach suspekt. Also lieber – klatsch klatsch – weg damit und zurück ins vertraute Reihenhaus.
Meine Geister gehören mir
Zurück zu meinem Erlebnis mit meiner Tochter und Art Garfunkel. Die schönen Geister, die uns Art geschenkt hatte, waren also erst einmal weg. Sie hatten einfach keine Chance gegen die klatschende Meute. Erst viel später, als wir hinaustraten in die kalte Nacht und uns Art Garfunkel nach über einer Stunde geduldigen Wartens doch noch einmal begegnete; erst als wir uns kurz unterhielten und er uns auf die Eintrittskarten seinen Namen schrieb; erst da konnte ich sie wieder spüren. Ganz leise spürte ich sie in meinem Kopf. Ich glaube, ich hörte sie singen: „…and the vision, that was planted in my brain… still remains. Within the sound of silence.“
Warum ich Euch das erzähle? Nun, vielleicht denkt Ihr ja an meine Geschichte und Oliver’s kluge Erklärung, wenn Ihr das nächste Mal ein Konzert oder ein Theaterstück besucht. Und am Ende steht Ihr einfach auf, faltet die Hände, verneigt Euch tief vor dem Künstler und schweigt. Kein Klatschen. Kein Rufen. Gebt den Geistern eine Chance. Dann bleiben sie noch ein bisschen bei Euch.
Ihr werdet es nicht bereuen. Versprochen!
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