Wie Birkenstock sexy wurde

von Romina Parejo

Vermutlich ist es vielen nicht mehr möglich, nach dem Lesen des Begriffs Birkenstock noch irgendetwas mit sexy zu assoziieren. Birkenstock UND sexy? In einer Überschrift? Muss ein Schreibfehler sein, oder was hat sexy zu tun mit:

Brillen-Nerd.

Vollbart.

Sprossengläsern auf dem Fenstersims.

Ingwertee.

Aufgetragenen Secondhand-Shirts.

Und dem prägnanten Duft von Tofu.

Also eben dem typischen Birkenstock-Träger.

Ich muss widersprechen. Diese Wortpaarung ist mutwillig und bei vollem Bewusstsein entstanden. Denn wenn etwas sinnbildlich für den Wandel von Öko zu Sexability steht, dann doch wohl der Birkenstock.

Birkenstock ist mittlerweile „in“. Ja, hip. Fast schon cool und voll Hipster. Die deutsche Kultquadratlatsche hat den Grünkorncharme hinter sich gelassen und glänzt nunmehr schon zur dritten Saison in Metallic-Optik und Schlangenlederprint. Und mit ihr glänzen die Klischees, die mit ihr so lange Zeit in den dunklen Randschichten der Gesellschaft weilten. Was einst ein soziales Ausschlusskriterium war, ist jetzt total im Trend.

Fangen wir an mit Klischee Nummer eins: Brillen-Nerd

Wer hätte vor 40 Jahren gedacht, dass sich selbst Menschen ohne Sehstärkenbehinderung einmal freiwillig (!) eine Brille mit Fensterglas kaufen und diese stilsicher und selbstbewusst auf der Arbeit tragen. Oder dass das fiese Modell der Kassenbrille aus den 70er Jahren einmal Inspiration für eine ganze Brillenkollektion von Chanel wird? Ja, auch ich schaue mit -2 Dioptrien durch die Gläser einer Vintage-LIU-JO auf meinen Bildschirm. Die einstige Nerd-Brille ist zum It-Piece schlechthin geworden. Je größer und je auffälliger, desto souveräner und stilsicherer wirkt ihr Träger. Manchmal gewinnt man fast schon den Eindruck, im Business-Kontext als weniger kompetent wahrgenommen zu werden, wenn man auf das Nasenfahrrad verzichtet.

Nächstes Klischee: der Vollbart

Mittlerweile gibt es in fast jeder Großstadt, die halbwegs etwas auf sich hält, einen Barbershop. Mit geschulten Barbieren und Retro-Vintage-Einrichtung. So ein bisschen wie im Wilden Westen. In diesen Salons läuft in Dauerschleife Johnny Cash und es gibt kostenloses Bier und schwarzen Kaffee (nix für Milchbubis). Während in liebevoller Handarbeit die heiligen Bärte gekürzt werden, philosophiert das männliche Geschlecht über sein Lieblingsthema: Größe. Also Bartgröße. Die richtige Länge. Ach, Männlichkeit eben. Stolz gehen die Stammgäste dann nach der Behandlung wieder hinaus in die Welt. Mit gestutztem Bart, aber gestärktem Ego. Ihr Statussymbol im Gesicht verleiht ihnen den Glanz des einstigen Marlboro Country Man: Wild. Free. Sexy. Dem stimmen selbst Hollywoodgrößen wie Brad Pit und Leonardo Di Caprio zu und posieren nur noch mit Vollbart verwegen im Scheinwerferlicht der roten Teppiche.

Ja, edgy ist das neue cool! Die Mode sitzt weit und locker. Asymmetrisch oder androgyn. Wenn die Bluse spannt, liegt das entweder an mangelndem Geschmack oder einer verpassten Entschlackungskur. Tailliert war gestern. Leger ist heute. Die Damen-Jeans haben einen Boyfriend-Schnitt und werden erst richtig cool durch mindestens zwei mutwillig eingeschnittene Schlitze. Bevorzugt über der Kniescheibe. Neben Begriffen wie „Boho“ und „Street Style“ ist fast alles an 90er Hip-Hop-Mode und Zigeunertracht erlaubt. So lange es nicht spannt, versteht sich.

Mittendrin in diesem Neuzeit Modekontext: der Birkenstock, natürlich. Was 1774 mit Johann Adam Birkenstock in einem kleinen Städtchen namens Langen-Bergheim begonnen hat, nimmt nun, 243 Jahre später, globale Ausmaße an. Zahlreiche Mode-Blog-Influencer posieren grazil im Modell Gizeh oder Madrid. Bartträger, Coachella-Festival-Gänger und Kurzzeit-Hipster.

Und dennoch ist es irgendwie ironisch, dass ausgerechnet ein Unternehmen, das für eine anatomisch korrektere Fußbewegung steht, nunmehr auch Sinnbild für eine gesellschaftliche Bewegung geworden ist. Liest sich jetzt vielleicht ein bisschen übertrieben, aber ich treibe Dinge gerne auf die Spitze.

Zum Beispiel das Thema Secondhand-Kleidung. Während aktuell fair gehandelte Kleidung mehr gehypt wird als je zuvor, war es für Birkenstock schon immer eine Selbstverständlichkeit, auf Qualität und Nachhaltigkeit zu achten. In seinem Code of Conduct verschreibt es sich fairen Arbeitsbedingungen, dem Verbot von Kinderarbeit und dem Umweltschutz. Dem schließen sich immer mehr Textilbegeisterte an. Nieder mit dem Massenkonsum! Nieder mit der geldgierigen Modeindustrie!

Make Secondhand great again!

Noch nie waren Flohmärkte und Secondhand-Läden so gefragt! Auch digital: Schlagartig entstanden unzählige Onlineportale und Apps. Man „kreiselt“ auf Kleiderkreiseln oder tauscht auf Shpock die alte Lederhandtasche gegen zwei kaum getragene Espadrilles. Die sonst skeptisch beäugten Requisiten der Großtante werden diebisch an sich gerissen und Omas Ohrringe werden zu geschätzten Raritäten. Ja, alles kommt irgendwie wieder. Alles geht irgendwie wieder zurück auf Anfang.

Back to the Roots

Wortwörtlich. Denn selbst banale Rüben- und Wurzelgerichte werden von Starkochs wie Jamie Oliver als Superfood wieder hoch angepriesen. Super healthy. Super Nutrition. Super-Sprossen. Die skurrilen Keimgläser sind inzwischen das Must-Have einer jeden gut sortierten und bewussten Hausfrau geworden. Denn für all diejenigen, die keinen begrünbaren Balkon oder Gemeinschaftsgarten beackern können, befriedigen sie in Ansätzen den Wunsch, selbst wieder Gemüse (und Wurzeln) anzubauen. Lokal. Fair. Bio. Biologisch, natürlich. Bio-Qualität steht mittlerweile auch für Bildungsqualität. Das Fußvolk bleibt bei carrageenisierter Aufschnittwurst und gezuckertem Dosenobst. Der Biohype geht uns allen entweder längst auf den Wecker oder in „Fleisch und Blut“ über.

Tofu!

Dieser entsetzte Ausruf folgt häufig auf die Wörter Fleisch oder Blut. Und gerade ich, Vegetarierin und teilweise auch schon angehende Veganerin, maße mir an, diesem Themenwechsel die Seriosität zu nehmen. Ich finde aber, dass man als Gemüse-Sympathisant öfter über das Tofuklischee lachen sollte. Wir Blattfresser sehen das Thema viel zu verbissen. Nicht verwunderlich, dass für viele das Thema Tofu schnell vom Tisch ist.

Tofu = Soja = Bäh

Vegetarier & Veganer essen Tofu = trinken Soja = Vegetarier & Veganer = Bäh

Dieser Gedankengang erinnert mich ein bisschen an die Weltanschauung von Fünfjährigen. Mit den typischen Aussagen wie „Mädchen sind doof“. Aber zurück zu dem vakuumierten Stückchen Soja, das immer noch etwas bedrohlich auf viele Supermarkteinkäufer wirkt. Denn Tofu steht für vegan. Für „meinem Essen das Essen Wegesser“. Für Moralapostel. Für komisch. Für Andersdenker. Und damit hat sich Tofu zusammen mit Birkenstock lange Zeit ein Klischee geteilt. Doch der Vegane-Hype und Botschafter wie Atilla Hildmann und diverse Supermodels haben ihm einen sozialen Aufstieg ermöglicht. Unzählige Bodybuilder schwören mittlerweile auf rein pflanzliche Kost und belegen mit zahlreichen #bodypics ihren Erfolg. Noch nie haben sich auf Instagram so viele Menschen über ein schönes Bild von einem nett drapierten Stückchen Tofu gefreut! Und wenn ihr es mir nicht glaubt, probiert es aus! Ihr müsst lediglich den #vegancommunity daruntersetzen und Liebe ist euch gewiss. Auch meine.

Ich weiß, Tofu kann hin und wieder etwas trocken sein. Aber auch hierzu gibt es eine wunderbare Bewegung, um trotz Healthy Hype auch stilvoll Alkohol genießen zu können. Es geht um die beiden Zauberwörter Gin und Whisky. Während lange Zeit beide als Altherren-Getränk verschrien waren, sind sie mittlerweile mehr als salonfähig. Jeder, der etwas auf (oder von) sich hält oder zumindest einen Vollbart trägt, gehört einer Whisky- oder Gin-Bewegung an. Ich selbst nicht ausgeschlossen. Seit kurzem bin ich mehr als angetan von Whisky. Und zum Leidwesen meines Umfelds nicht nur von irgendeinem Einsteigerwhiskey. Nein, die volle Torf-Rauch-Dröhnung: Lagavulin. Sehr damenhaft. Das wirkt sicherlich auf viele noch etwas befremdlich, wenn ich mir an der Bar keinen Cosmopolitan, sondern einen Single Malt bestelle. Aber hey, solange ich meine Birkenstock trage, ist alles cool.

Altherren-Getränke und Birkenstock sind also wieder am Puls der Zeit. Hört sich an wie ein Skript von Stephen King, ist aber Realität. Und wenn ihr mir auch zu dieser These keinen Glauben schenken könnt, dann investiert bitte 30 Sekunden und schaut euch diese Statement-Werbung an.

In diesem Sinne: Cheers! (Für Whisky-Trinker gilt natürlich: Slàinte!)

Ich spicke noch mal kurz nach oben auf die einstigen Birkenstock-Klischees und mache mich mutig an eine neue zeitgemäßere Definition:

Der moderne Birkenstockträger lehnt lässig in einer ausgewaschenen Denim-Jeans und mit perfekt getrimmtem Bart am Geländer seines Strandhauses auf Sylt. In der rechten Hand hält er genüsslich ein Glas Ardbeg Supernova und lässt den Blick seiner stahlblauen Augen sehnsüchtig über die unergründliche See schweifen. Ein köstlicher Duft von geräuchertem Tofu weht aus dem Haus und unter dem abgetragenen T-Shirt zeichnen sich seine perfekt definierten Muskeln ab. Während ihm eine salzige Meerbrise sanft durch das Haar streicht, wirft er mir durch die ovalen Gläser seiner Brille einen vielsagenden Blick zu.

Ich seufze.

Arh, verdammt sexy!

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